Das kleine Räuberkind

23. August 2018 Aus Von Hans-Werner Kulinna

Tagelang hatte es schon geschneit. Die Felder und Berghänge von Bethlehem lagen unter einer dicken Schneedecke. Es war ein bitterkalter Wintertag. In der Räuberhöhle oben in den Bergen brannte nur noch ein schwaches Feuer. Die letzten Holzstücke waren aufgebraucht. Das kleine Räuberkind rückte näher an die noch glimmende Glut, um sich zu wärmen. Draußen pfiff ein eisiger Wind um den Berghang. Da sprach der Räubervater: „Natan, zieh deine Hirtensachen an, damit dich niemand erkennt und geh ins Dorf. Vielleicht geben sie dir etwas Brennholz. Los, mach schon!“

Natan stand missmutig auf, zog die Hirtenjacke und die Stiefel an und machte sich auf den mühsamen Weg hinunter nach Bethlehem. Weil die Stiefel ihm viel zu groß waren, konnte er nur ganz langsam gehen. Es war nicht leicht, durch den frischen, hohen Schnee zu laufen. Als er endlich nach Bethlehem kam, pochte er an die erste Tür und bat die Leute um ein paar Holzscheite. „Tut uns leid Kleiner, wir haben selbst nichts!“, sagten sie und wiesen ihn ab. Überall wo er anklopfte, hörte er immer wieder das Gleiche. Langsam wurde es draußen immer dunkler. Der kleine Räuber fror bitterlich. Als er mühsam bis zum letzten Haus gekommen war, wollte er gerade anklopfen, doch sein Mut verließ ihn. „Sie haben sicher auch kein Holz für mich!“, dachte er und ging traurig weiter. Da sah er in der Ferne ein kleines Licht. Er ging weiter und das kleine Licht wurde immer größer.

Plötzlich stand er vor einem alten Stall. Einige Bretter waren schon aus der Stallwand heraus gefallen. „Hier wird sicher Holz sein!“, dachte er bei sich und er wagte sich langsam hinein. Da sah er ein kleines Kind in einer Holzkrippe liegen und eine Frau und ein Mann saßen im Stroh und waren voller Freude. Hinten in der Ecke des Stalles lagen ein großer Ochse und ein kleiner Esel und wärmten die Leute. „Guten Tag, du kleiner Hirte!“, sagte die Frau mit freundlicher Stimme. „Komm, setz dich zu uns!“, bat der Mann und er winkte ihn heran. Der kleine Räuber war verdutzt und er zitterte vor Kälte.  Er wollte ja eigentlich nur etwas Brennholz. Was sollte sein Vater denken, wenn er so lange fort bleibt. „Setz dich zu uns, du frierst ja!“, sagte die Frau zu ihm. Der kleine Räuberjunge setzte sich zur Krippe und schaute lange auf das Kind. Ihm war, als würde die Kälte in ihm verschwinden. Er fühlte die kleinen Hände und sah die wachen Augen. Das Kind lag in einer Futterkrippe. „Ich habe sie sehr schnell aus Holzstücken bauen müssen!“, sagte da plötzlich der Mann, „unser Kind ist erst heute geboren und wir sind sehr dankbar, dass es da ist.“

„Gut, dass du allein gekommen bist!“, sagte da die Frau, „heute waren schon viele Menschen hier bei uns und wollten unser Kind sehen.“ Der kleine Räuber hörte aufmerksam zu, dabei merkte er gar nicht, dass er im warmen Stroh immer müder wurde. Schließlich war er eingeschlafen.

Als er am nächsten Morgen erwachte, wusste der kleine Räuberjunge zuerst gar nicht, wo er war.

Dann fiel ihm alles wieder ein.  Er sah sich um. Das kleine Kind und seine Eltern waren fort. Auch den Esel konnte er nicht sehen. Nur der Ochse lag in der Ecke und schlief. Da fiel ihm ein, dass er ja unterwegs war, um Brennholz zu holen. Er sah die leere Holzkrippe. „Das Kind wird sie nicht mehr brauchen!“, dachte er und er nahm sie an sich. Hastig packte er noch einige herumliegende Holzstückchen hinein. Dann ging er eilig durch den tiefen Schnee zurück in die Berge. Obwohl er die großen Stiefel trug, war der Weg jetzt gar nicht mehr so beschwerlich wie vorher. Die Morgensonne zeigte gerade ihre ersten Strahlen und ihm war noch nie so warm. Als er in der Räuberhöhle ankam, schlief sein Vater noch tief und fest. Natan legte vorsichtig Holzstückchen in die winzige Glut. Er hatte Glück. Schnell begann das kleine Feuer wieder zu brennen. Dann legte er sich zufrieden schlafen. Natan wusste, es war ein guter Tag.

© Hans-Werner Kulinna